Kreuzblütlergemüse wie Brokkoli und Kohl gelten seit langem als gesundheitsfördernd. Einer der Stoffe, der dafür verantwortlich sein soll, ist Indol-3-carbinol (I3C). Doch was steckt wirklich hinter diesem Pflanzenstoff? Ein genauer Blick auf die Fakten zeigt: Die Realität ist komplizierter als die Werbeversprechen.
Was ist Indol-3-carbinol eigentlich?
Indol-3-carbinol ist ein Stoff, der beim Kauen oder Schneiden von Kreuzblütlergemüse entsteht [1]. Er bildet sich aus Glucobrassicin, einem schwefelhaltigen Pflanzenstoff, der natürlich in Brokkoli, Blumenkohl, Rosenkohl und anderen Kohlarten vorkommt. Interessant dabei: I3C selbst kommt in diesen Gemüsen gar nicht vor – es entsteht erst, wenn das Gemüse zerkleinert wird und das pflanzeneigene Enzym Myrosinase aktiv wird [2].
Die chemische Struktur von I3C ist mit einem Molekulargewicht von 147,17 g/mol relativ einfach. Der Stoff ist ein weißes bis gelbliches Pulver mit einem Schmelzpunkt zwischen 96 und 99°C. In Wasser löst er sich nur schlecht (etwa 3,75 mg pro Milliliter), was für die Aufnahme im Körper wichtig ist [3].
Ein instabiler Stoff mit vielen Gesichtern
Was I3C besonders macht – und gleichzeitig problematisch für die Anwendung als Nahrungsergänzungsmittel – ist seine Instabilität. Sobald I3C in den sauren Magen gelangt, verwandelt es sich innerhalb weniger Minuten in andere Stoffe [4]. Der wichtigste davon ist 3,3′-Diindolylmethan (DIM), das etwa 6% der entstehenden Abbauprodukte ausmacht. Daneben entstehen noch mindestens 20 weitere Verbindungen, darunter komplexe Moleküle mit schwer aussprechbaren Namen wie 5,11-Dihydroindolo-[3,2-b]carbazol (ICZ) [5].
Diese Umwandlung ist so schnell und vollständig, dass im Blut von Menschen, die I3C einnehmen, praktisch kein I3C mehr nachweisbar ist – nur noch seine Abbauprodukte, hauptsächlich DIM [6]. Das wirft die Frage auf: Wenn der Körper sowieso nur die Abbauprodukte aufnimmt, warum dann nicht gleich diese einnehmen?
Wie viel Indol-3-carbinol steckt in unserem Essen?
Die Menge an Glucobrassicin – und damit die potenzielle Menge an I3C – variiert stark zwischen verschiedenen Gemüsesorten und sogar zwischen einzelnen Pflanzen. Hier eine Übersicht der durchschnittlichen Glucosinolat-Gehalte:
| Gemüse | Glucosinolate gesamt (mg/100g roh) | Anteil Glucobrassicin | Geschätztes I3C-Potenzial |
|---|---|---|---|
| Brokkoli | 51 | 8-12% | 4-6 mg/100g |
| Rosenkohl | 60-80 | 8-12% | 5-10 mg/100g |
| Blumenkohl | 30-40 | 8-12% | 2-5 mg/100g |
| Grünkohl | 70-90 | 8-12% | 6-11 mg/100g |
| Weißkohl | 40-50 | 8-12% | 3-6 mg/100g |
Wichtig zu wissen: Beim Kochen geht etwa die Hälfte des Glucobrassicins verloren [7]. Ein gekochter Brokkoli enthält durchschnittlich nur noch 21 mg Glucosinolate pro 100g statt der ursprünglichen 51 mg. Die durchschnittliche tägliche Aufnahme von Indol-Verbindungen über die normale Ernährung liegt in Deutschland bei nur etwa 5-6 mg pro Tag [8].
Um die in Studien verwendeten Dosierungen von 200-400 mg I3C täglich zu erreichen, müsste man theoretisch mehrere Kilogramm rohes Kohlgemüse essen – jeden Tag. In der Praxis bedeutet das: Eine wirksame Dosis ist über normale Ernährung kaum erreichbar.
Was passiert mit Indol-3-carbinol im Körper?
Die Reise von I3C durch den Körper ist kurz aber ereignisreich. Nach der Einnahme gelangt es in den Magen, wo es bei einem pH-Wert von etwa 1-3 sofort zu reagieren beginnt [9]. Die entstehenden Produkte sind vielfältig:
- DIM (3,3′-Diindolylmethan): Das Hauptprodukt, entsteht wenn zwei I3C-Moleküle sich verbinden
- LTr (Lineares Trimer): Entsteht aus drei I3C-Molekülen
- CTr (Zyklisches Trimer): Eine ringförmige Verbindung aus drei I3C-Molekülen
- ICZ (Indolo[3,2-b]carbazol): Ein besonders potenter Stoff, der stark auf bestimmte Rezeptoren wirkt
Aufnahme und Verteilung
Studien zeigen, dass I3C selbst sehr schnell aufgenommen wird – bereits nach 15-30 Minuten sind messbare Mengen im Blut. Allerdings verschwindet es genauso schnell wieder: Nach einer Stunde ist kein I3C mehr nachweisbar [10]. Die höchsten Konzentrationen finden sich in der Leber, wo die Werte etwa sechsmal höher sind als im Blut.
DIM hingegen bleibt länger im Körper. Nach Einnahme von 400 mg I3C erreicht DIM nach etwa 2 Stunden seine höchste Konzentration im Blut (etwa 60 ng/ml). Bei höheren Dosen von 1000 mg steigt dieser Wert auf etwa 600 ng/ml [11]. Nach 24 Stunden sind die DIM-Werte wieder nahe der Nachweisgrenze.
Ein merkwürdiges Phänomen zeigte sich in Studien: Bei Menschen, die über 8 Wochen täglich I3C einnahmen, waren manchmal schon vor der morgendlichen Einnahme hohe DIM-Werte im Blut messbar – obwohl die letzte Dosis mindestens 12 Stunden zurücklag [12]. Die Forscher haben dafür noch keine schlüssige Erklärung.
Wirkungsmechanismen: Wie funktioniert Indol-3-carbinol?
Die biologischen Wirkungen von I3C – oder besser gesagt seiner Abbauprodukte – sind vielfältig. Die wichtigsten Mechanismen umfassen:
1. Beeinflussung von Entgiftungsenzymen
I3C und besonders DIM aktivieren den sogenannten Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor (AhR). Dieser Rezeptor reguliert Gene, die für Entgiftungsenzyme codieren [13]. Besonders stark wird das Enzym CYP1A2 aktiviert – in Studien stieg dessen Aktivität um bis zu 90% [14]. Das klingt erst einmal gut, hat aber zwei Seiten: Einerseits können Schadstoffe schneller abgebaut werden, andererseits werden auch manche Medikamente schneller ausgeschieden und wirken dadurch schwächer.
2. Veränderung des Östrogenstoffwechsels
Ein viel beworbener Effekt ist die Verschiebung des Östrogenstoffwechsels. Östrogen kann im Körper zu verschiedenen Produkten abgebaut werden:
- 2-Hydroxyöstron: Gilt als „gutes“ Abbauprodukt mit schwacher östrogener Wirkung
- 16α-Hydroxyöstron: Gilt als „schlechtes“ Abbauprodukt, das Zellwachstum fördern kann
I3C erhöht das Verhältnis von 2- zu 16α-Hydroxyöstron. In Studien stieg dieses Verhältnis um etwa 66% [15]. Ob das tatsächlich vor Krebs schützt, ist allerdings nicht bewiesen.
3. Direkte Effekte auf Krebszellen
In Laborversuchen zeigen I3C und DIM verschiedene Wirkungen auf Krebszellen:
- Hemmung des Zellwachstums
- Auslösung des programmierten Zelltods (Apoptose)
- Blockierung der Blutgefäßneubildung in Tumoren
- Hemmung der Metastasenbildung
Wichtig: Diese Effekte wurden hauptsächlich in Zellkulturen und Tierversuchen beobachtet. Ob sie auch beim Menschen in relevantem Ausmaß auftreten, ist unklar [16].
Studien am Menschen: Was wissen wir wirklich?
Die Studienlage zu I3C beim Menschen ist überschaubar. Die wichtigsten Untersuchungen konzentrieren sich auf drei Bereiche:
Zervikale Dysplasie (Vorstufen von Gebärmutterhalskrebs)
Die vielversprechendsten Ergebnisse gibt es bei Gebärmutterhals-Veränderungen. In einer kontrollierten Studie mit 30 Frauen mit CIN II-III (mittel- bis hochgradige Veränderungen) erhielten die Teilnehmerinnen 12 Wochen lang entweder Placebo, 200 mg oder 400 mg I3C täglich [17].
Die Ergebnisse:
- Placebo-Gruppe: 0 von 10 Frauen zeigten eine Rückbildung
- 200 mg I3C: 4 von 8 Frauen (50%) zeigten komplette Rückbildung
- 400 mg I3C: 4 von 9 Frauen (44%) zeigten komplette Rückbildung
Diese Ergebnisse klingen beeindruckend, aber die Studie war sehr klein. Größere Folgestudien konnten diese Erfolge nicht immer bestätigen. Zudem ist wichtig: Gebärmutterhalskrebs-Vorstufen sollten immer unter ärztlicher Kontrolle behandelt werden!
Brustkrebs-Prävention
Mehrere Studien untersuchten, ob I3C das Brustkrebsrisiko senken kann. Die Ergebnisse sind gemischt:
- Das Östrogen-Verhältnis verschiebt sich tatsächlich in die gewünschte Richtung [18]
- Ob das zu weniger Brustkrebs führt, ist nicht bewiesen
- Keine Langzeitstudien verfügbar
Andere Anwendungen
Kleine Studien untersuchten I3C auch bei:
- Respiratorischer Papillomatose: Eine seltene Erkrankung mit gutartigen Tumoren in den Atemwegen. Hier zeigte sich bei 70% der Behandelten eine Besserung [19]
- Vulväre intraepitheliale Neoplasie: Vorstufen von Vulvakrebs. Die Ergebnisse waren uneinheitlich
- Lupus erythematodes: Sehr kleine Pilotstudie mit unklaren Ergebnissen
Dosierung und Einnahme: Was empfiehlt die Wissenschaft?
Die in Studien verwendeten Dosierungen variieren erheblich:
| Anwendung | Dosierung | Dauer | Evidenz |
|---|---|---|---|
| Zervikale Dysplasie | 200-400 mg/Tag | 12 Wochen | Begrenzte Evidenz |
| Östrogen-Metabolismus | 300-400 mg/Tag | 4-8 Wochen | Gut belegt (nur Laborwerte) |
| Allgemeine Prävention | 200-400 mg/Tag | Unklar | Keine Evidenz |
| Respiratorische Papillomatose | 400 mg/Tag | Langzeit (Monate-Jahre) | Fallberichte |
Wichtige Hinweise zur Einnahme:
- I3C sollte mit Nahrung eingenommen werden
- Die Wirkung hängt von der Magensäure ab – bei Einnahme von Säureblockern ist die Umwandlung zu DIM gestört [20]
- Die optimale Dosis ist nicht etabliert
- Langzeitdaten fehlen
Nebenwirkungen und Risiken: Die Schattenseiten
In den meisten Studien wurde I3C gut vertragen, aber es gibt durchaus Nebenwirkungen und Bedenken:
Häufige Nebenwirkungen (bei Dosen über 400 mg):
- Magen-Darm-Beschwerden (Übelkeit, Durchfall)
- Hautausschlag
- Gleichgewichtsstörungen
- Tremor (Zittern)
- Leicht erhöhte Leberwerte bei einzelnen Personen [21]
Mögliche Langzeitrisiken:
Hier wird es kompliziert. Tierversuche zeigen widersprüchliche Ergebnisse:
- In manchen Studien wirkte I3C krebsvorbeugend
- In anderen Studien förderte es unter bestimmten Bedingungen sogar das Tumorwachstum [22]
- Bei bereits bestehendem Krebs könnte I3C das Wachstum beschleunigen
Ein spezielles Problem betrifft die Schilddrüse: Hohe Mengen an Kreuzblütlergemüse können die Jodaufnahme hemmen. Ob isoliertes I3C diesen Effekt auch hat, ist unklar, aber bei Schilddrüsenproblemen ist Vorsicht geboten [23].
Wechselwirkungen mit Medikamenten: Ein unterschätztes Problem
I3C und DIM beeinflussen Enzyme, die auch für den Abbau von Medikamenten zuständig sind. Besonders betroffen ist das Enzym CYP1A2, dessen Aktivität durch I3C fast verdoppelt werden kann [24]. Das bedeutet:
| Medikamentengruppe | Mögliche Wechselwirkung | Konsequenz |
|---|---|---|
| Clozapin (Antipsychotikum) | Schnellerer Abbau | Verminderte Wirkung möglich |
| Theophyllin (Asthmamittel) | Schnellerer Abbau | Dosisanpassung nötig |
| Koffein | Schnellerer Abbau | Kürzere Wirkdauer |
| Östrogen (Pille, HRT) | Veränderte Verstoffwechselung | Möglicherweise verminderte Wirkung |
| Tamoxifen | Komplexe Interaktionen | Vorsicht geboten |



