Gesundheit optimieren mit Echtzeit-Urinanalyse

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Urinanalyse

Stell dir vor, du gehst zum Arzt wegen eines Problems und als Erstes bittet dieser dich, in ein Gefäß zu urinieren. Soweit so gut. Doch dann beobachtest du den Arzt fassungslos, als dieser ohne Vorwarnung das Gefäß mit dem Mund beprobt, als würdet ihr euch nicht in der Praxis, sondern zur Burgunder-Verkostung im städtischen Weinkeller treffen. So undenkbar das heute ist, so alltäglich war diese ärztliche Praxis in der Antike. Die Urinschau war wichtig, um schnell zu einer Diagnose zu gelangen. Denn Urin enthält bis zu 3.000 Metaboliten, die Aufschluss über den Gesundheitszustand des Körpers geben. Wir nutzen dieses Potenzial nicht annähernd. Erst, wenn uns Beschwerden zum Arzt treiben, untersucht dieser den Urin. Technologische Innovationen ändern das und geben uns im Rahmen einer personalisierten Gesundheitsfürsorge die Möglichkeit zur Echtzeit-Urinanalyse.

Urinanalyse

Der Geschmack war ein wichtiges Kriterium der Urinschau

Die Eigenschaften des Urins waren, in Zeiten bevor es Labortests und moderne Medizin gab, wichtige Kriterien zur Diagnose. Ärzte nutzten Farbe, Konsistenz, Geruch und – wenn nötig – Geschmack des Urins, um Anhaltspunkte für die Ursache der Beschwerden zu erhalten. Farbe und Konsistenz verriet ihnen, ob ungewöhnliche Stoffe im Urin gelöst vorlagen und welches Organ von Störungen betroffen war. Süßlicher Geruch und Geschmack deuteten auf die Zuckerkrankheit hin, die wir heute als Diabetes mellitus Typ 2 kennen.

Damalige Ärzte schmeckten, ob die Flüssigkeit sauer oder süß, seifig, bitter oder salzig war und konnten daraus Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand des Patienten ziehen. Diese Praxis führte nicht immer zum Erfolg, auch weil es häufig an der Kenntnis der zugrundeliegenden Vorgänge fehlte. Die Praxis der Urinschau zeigt aber, dass die Menschen sehr früh den Zusammenhang zwischen Urin und Wohlergehen verstanden. Auch wenn diese Praxis der Urinverkostung in den Arztpraxen heute aus hygienischen Gründen nicht mehr angewendet wird, so ist der Urin ein Medium, das uns ermöglicht, den Gesundheitszustand zu verstehen.

Der Organismus baut permanent Stoffe auf, wandelt Substanzen um und baut nicht mehr benötigtes ab. Wir nehmen Nahrung auf, um sie zu zersetzen, Nährstoffe daraus aufzunehmen und in den Zellen zu nutzen. Gleichzeitig entstehen Abbauprodukte, die wir ausscheiden, um einen funktionierenden Stoffwechsel zu gewährleisten, sogenannte harnpflichtige Substanzen.

Welche Geheimnisse verrät der Urin?

Heute nutzen Ärzte den Urin der Patienten ebenfalls, aber auf weniger geschmacksintensive Art und Weise. Kenntnisse der Mikrobiologie ermöglichen es, Urinkulturen anzulegen, Bakterien im Urin festzustellen und Rückschlüsse auf bakterielle Infektionen zu ziehen. Moderne Analysegeräte erlauben den Medizinern des Weiteren, den Urin auf verschiedenste Metaboliten zu prüfen. Warum Urin, durch die Metaboliten, die er enthält, so aufschlussreich ist, zeigen zwei weitere Beispiele: Spargel und Protein.

Spargel enthält einen Pflanzenstoff, der ihn vor Fressfeinden schützt, die Asparagusinsäure. Diese enthält Schwefelmoleküle, die in der Natur häufig zur Verteidigung eingesetzt werden. Wenn wir Spargel essen, nehmen wir Asparagusinsäure mit fest gebundenem Schwefel auf. Manche Menschen besitzen ein Enzym, das den schwefelhaltigen Teil der Säure abspaltet. Wenn das geschieht, bekommt der Urin den typischen, schwefelartigen Spargelgeruch. Es gibt Menschen, die besitzen kein funktionelles Enzym und folglich keinen klassischen Spargelurin. Über den Geruch erfährt man ohne aufwendige Analysegeräte, ob die betreffende Person die biologische Ausstattung für das Enzym besitzt.

Bei der Verarbeitung von Nahrungsprotein fallen Abbauprodukte an, die den pH-Wert des Urins beeinflussen. Dabei kommt es auf die Menge des verzehrten Proteins an und auf die Qualität. Besonders tierisches Protein führt, durch einen hohen Anteil der schwefelhaltigen Aminosäuren Cystein und Methionin, zu einer merklichen Säurelast für die Nieren. Das spiegelt sich in den PRAL-Werten (potential renal acid load) wider und macht sich im Urin bemerkbar. Das Eiweiß aus tierischen Produkten verschiebt den pH-Wert des Urins ins saure Milieu. Der Konsum von Gemüse und Obst hebt den pH-Wert an. Beobachtungs- und Interventionsstudien demonstrieren durchgängig, dass Personen, die mehr Gemüse und Obst essen, einen signifikant höheren Urin-pH aufweisen. Dementsprechend kann der pH-Wert des Urins genutzt werden, um die Ernährung durch einen höheren Gemüse- und Obst-Anteil zu optimieren und damit langfristig für bessere Gesundheit sorgen.

Metaboliten im Urin, die tiefe Einblicke gewähren

Die Niere ist verantwortlich für die Produktion des Urins. Sie legt fest, welche Stoffe harnpflichtig sind. Bei guter Gesundheit findet man ausschließlich harnpflichtige Stoffe im Urin, bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen weitere hinzu. Zu den gewöhnlichen Bestandteilen des Harns gehören Harnstoff, Harnsäure, Kreatinin, Säuren, Hormone oder Salze. Hier signalisieren Konzentrationen außerhalb des Normbereichs Missstände bei der Gesundheit. Nitrit, Eiweiß in Form von Albumin, Ketonkörper, Bilirubin oder weiße Blutkörperchen kommen bei Gesunden nicht im Urin vor.

Hier ist bei Werten außerhalb des Normbereichs Vorsicht angesagt

Die Osmolalität des Urins ist eine Maßzahl für die Konzentration der gelösten Teilchen. Befinden sich wenige Teilchen wie Elektrolyte oder Harnstoff im Urin, signalisiert das womöglich Probleme mit der Niere. Ein Ungleichgewicht in die andere Richtung – ein zu konzentrierter Urin – ist ein Indikator für geringe Flüssigkeitszufuhr. Mit dieser Information könnte man das Risiko für Blasensteine reduzieren.

Der pH-Wert des Urins bei Gesunden mit normaler Ernährung beträgt zwischen 4,5 und 7,8 und liegt im leicht sauren Bereich. Neben der Ernährung beeinflussen Tageszeit und langes Fasten diesen Parameter der Urinanalyse. Im Durchschnitt haben Menschen, die eine pflanzenbasierte Ernährung verfolgen, einen höheren pH-Wert. Der pH-Wert des Urins nimmt ab, wenn Menschen fleischlastig essen. In beiden Fällen liegen die Werte aber innerhalb des Normalbereichs. Ein hoher pH-Wert von über 7,8 liegt außerhalb des normalen Spektrums und signalisiert in der Regel das Vorhandensein von Bakterien.

Der Körper reguliert den Zuckerhaushalt streng. Je nach Körpermasse und Blutvolumen sind zu jeder Zeit circa 4-5 g Traubenzucker (Glukose) im Blutkreislauf verteilt. Die meisten Menschen kennen die Symptome einer leichten Unterzuckerung (Hypoglykämie), wenn nicht mehr genug Zucker im Blut ist. Leichte Hypoglykämie führt zu weichen Knien, kaltem Schweiß und Konzentrationsproblemen. Bei starker Hypoglykämie besteht die Gefahr von Atemstillstand und bewusstlos zu werden. Das andere Extrem, die Hyperglykämie, führt zu Müdigkeit, Gefäßschäden, Schwindel und Sehstörungen bis hin zum Koma. Bei normalen Blutzuckerwerten ist kaum Glukose im Urin. Bei erhöhten Blutzuckerwerte von mehr als 180 mg je Deziliter scheidet der Körper vermehrt Glukose über den Urin aus. Erhöhte Glukose-Werte im Urin sind Warnzeichen für Prädiabetes oder bislang unerkanntes Diabetes mellitus Typ 2.

Wenn diese Metaboliten im Urin vorkommen, stimmt etwas nicht

Nitrit im Urin signalisiert die Tätigkeit von unerwünschten Bakterien. Diese siedeln irgendwo auf dem Weg von der Niere über die Blase bis zum Ende der Harnröhre. Sie wandeln das gewöhnlich im Urin auftretende Nitrat in Nitrit um. Trotz Nitrit im Urin kann eine Infektion mit Bakterien symptomlos verlaufen. Treten diese symptomlosen Bakterieninfektionen häufiger auf, schadet das den beteiligten Organen, allen voran den Nieren. Die frühzeitige Erkennung von Nitrit im Urin ermöglicht eine zügige Behandlung der Infektion und minimiert das Risiko für Langzeitfolgen.

Der Körper recycelt und erneuert regelmäßig alle Zellen im Körper. So auch die roten Blutkörperchen, die im Durchschnitt 120 Tage bestehen. Beim Abbauprozess, den die Leber orchestriert, entsteht Bilirubin, eine gelbliche Substanz, die toxisch wirkt und ausgeschieden werden muss. Unter normalen Umständen leitet die Leber die Ausscheidung an und koppelt Bilirubin an Transporter, die es anschließend mit der Galle in den Darm transportieren. Von dort wird es über den Stuhl ausgeschieden. Kommt die Leber ihren Aufgaben durch eine Störung nicht mehr nach, wird das Bilirubin vermehrt über den Urin ausgeschieden. Bilirubin im Urin (Bilirubinurie) indiziert gesundheitliche Probleme wie Gallensteine, ein Tumor in den beteiligten Geweben oder Leberzirrhose. Die frühzeitige Erkennung der Bilirubin-Ausscheidung über den Urin erhöht bei ansonsten symptomlosen Personen die Chancen auf eine frühzeitige Behandlung.

Moderne Urindiagnostik macht Prophylaxe einfacher

Die bislang erwähnten Urin-Metaboliten gehören zu den bekanntesten. Insgesamt enthält der Urin, mit 3.000 Metaboliten, weitaus mehr Informationen. Der Arzt nutzt nur wenige davon, um bestehende Probleme zu behandeln. Dabei gibt es nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, diese Daten präventiv zu nutzen und damit die Gesundheit zu optimieren. Der medizinische Standard ist die Analyse des Urins, erst nachdem ein Problem vorliegt. Diese Handhabung scheint in Anbetracht der unzähligen Metaboliten im Urin, die zu jeder Stunde Aufschluss über den Gesundheitszustand geben und damit Krankheiten vorbeugen können, verschenktes Potenzial.

Ein simpler Teststreifen aus der Apotheke ist die erste Anwendung, die zu Hause und eigenständig durchgeführt wird. Der Teststreifen erlaubt es, einen spezifischen Wert zu schätzen. Das funktioniert zum Beispiel für den pH-Wert, Glukose oder Bilirubin. Der Vorteil dieser Streifen ist der direkte Einblick, ohne Besuch beim Arzt. Es ist möglich, Teststreifen mehrmals täglich anzuwenden, um so einen Verlauf zu beschreiben. Nachteilig sind der Aufwand, die geringe Praktikabilität und die fehlende Interpretation der Rohdaten. Denn was ein Laie als „normal“ wahrnimmt, könnte ein Experte als erstes Warnzeichen verstehen.

Je nach Zielsetzungen ist es nötig, den gesamten Urin eines Tages zu untersuchen. Zum Beispiel bei der Überprüfung bestimmter Nährstoffe. Wenn man dafür zum Arzt muss, ist das wenig praktikabel. Ein Analysegerät für zu Hause wäre in diesem Fall eine einfache Möglichkeit. Einige innovative Unternehmen haben das Ziel, diese Nachteile herkömmlicher Urindiagnostik mithilfe von Design und Technologie zu beseitigen.

Das Potenzial der personalisierten Echtzeit-Urinanalyse

Eine steigende Anzahl von Unternehmen entwickelt unkomplizierte, praktische und hygienische Instrumente dieser Art. Sie wollen das Potenzial der 3.000 Metaboliten im Urin nutzen, die uns bereitwillig eine Geschichte erzählen, sofern wir sie darum bitten. Solche Instrumente erlauben es den Menschen, außerhalb der Arztpraxen wertvolle Erkenntnisse aus dem Urin zu gewinnen. Zur Vision gehört, dass Menschen zu jeder Tageszeit verschiedenste Metaboliten im Urin überwachen. Das eröffnet die Chance, rechtzeitig und präventiv zu reagieren. Es führt zu mehr Wohlbefinden, Komfort und optimierter Gesundheit.

Wer kann von der personalisierten Echtzeit-Urinanalyse profitieren?

Der Withings U-Scan ist ein Analysegerät mit einfachem Design, das wie ein Duftstein am inneren der Toilette angebracht wird. Das Analysegerät gibt die Daten nach dem Wasserlassen direkt an eine App weiter. In Echtzeit wertet diese die erhobenen Daten aus, bereitet die Informationen grafisch und anschaulich auf oder spricht Empfehlungen aus.

Gesunde Personen bekommen auf diese Weise Feedback zur Versorgung mit Vitamin C oder zum Flüssigkeitshaushalt. Die App spricht eine Warnung aus, falls zu hoher Proteinkonsum die Nieren zu belasten droht und es besser für die Nierengesundheit ist, wenn mehr Gemüse statt Protein auf dem Speiseplan steht. Über die Messung von Hormonen, wie des luteinisierenden Hormons, bekommen Frauen Feedback zum Menstruationszyklus. Die App bestimmt den Zeitpunkt der Ovulation. Ungenaue und aufwendige Methoden der Zyklusüberwachung sind damit überflüssig.

Kranke Menschen haben durch die Echtzeit-Urinanalyse die Chance, den Krankheitsverlauf besser zu kontrollieren. Auf diese Weise optimieren Betroffene fehlende Nährstoffe, die die Krankheit bekämpfen und die Gesundheit verbessern. Für manche Krankheiten ist die richtige Dosierung des Medikaments entscheidend. Die optimale Dosierung unterscheidet sich häufig von einer Person zur nächsten. Ein Arzt kann die Daten der Echtzeit-Urinanalyse nutzen, um die wirksame Dosierung notwendiger Medikamente einzustellen.

Quellen

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https://www.thelancet.com/article/S0140-6736(19)30041-8/fulltext

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/B9781416066408000026

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2636990/

Früher arbeitete Sebastian an dem Ziel, Nutzpflanzen wie Weizen, Mais oder Kartoffeln für höhere und stabilere Erträge zu verbessern. Dafür studierte er Agrarbiologie, promovierte in Pflanzenzüchtung und forschte an Unis und Forschungszentren in München, Adelaide oder Köln. Heute nutzt er seine Erfahrung aus der wissenschaftlichen Arbeit, um als Autor und Coach einem breiten Publikum evidenzbasierte Informationen zugänglich zu machen. Die Schwerpunkte seiner Arbeit als Wissenschaftsautor bilden Ernährung, Fitness, Langlebigkeit und das Mikrobiom.