Was ist eigentlich Melatonin?

Lesezeit 19 Minuten
Melatonin

Melatonin ist ein Hormon, das in Zirbeldrüse (auch Epiphyse) produziert wird. Sie gehört zum Mittelhirn und reguliert über die Bildung und Freisetzung von Melatonin das Wechselspiel zwischen Aktivität und Schlaf. Den Impuls hierfür bekommt die Zirbeldrüse aus einem spezifischen Kerngebiet (Nucleus suprachiasmaticus), das den Tag-Nacht-Rhythmus kontrolliert und deswegen auch als „Master Clock“ bezeichnet wird. Hier wird die innere Uhr gestellt und im Takt gehalten. Eine besondere Bedeutung für diesen Takt spielt das Licht, weswegen Lichtinformationen aus der Netzhaut direkt in das Kerngebiet geleitet und verrechnet werden. Diese Lichtreize sorgen dafür, dass die Zirbeldrüse in ihrer Aktivität gehemmt wird und somit kein Melatonin hergestellt und freigesetzt wird. Bei Dunkelheit wird diese Hemmung unterbrochen und die Drüse kann ihrer Aufgabe nachkommen. Das freigesetzte Melatonin bindet an spezifische Rezeptoren unterschiedlicher Zelen und signalisiert dem Körper, dass es Zeit ist zu schlafen.

Wofür benötigt der Körper Melatonin?

Der Mensch benötigt Melatonin für die Regulierung des Schlafes und der zeitlichen Koordination unterschiedlicher Vorgänge im Körper. Es wird bei Dunkelheit aus dem Botenstoff Serotonin gebildet und aus der Zirbeldrüse ins Blut abgegeben. In der Nacht ist der Melatonin-Spiegel bis zu 12-mal höher als am Tage, wobei er mit zunehmendem Alter weniger stark ansteigt. Dabei ist der maximale Wert gegen 3 Uhr erreicht und sinkt dann langsam wieder ab. Mit einsetzendem Licht wird die Bildung und Freisetzung von Melatonin wieder vollständig unterbrochen.

Melatonin wirkt auf zahlreiche Strukturen im Körper, wodurch letztlich der (Tief-) Schlaf eingeleitet und zeitweilig aufrecht gehalten wird. Zu den direkt oder indirekt ausgelösten Wirkungen von Melatonin gehören unter anderem:

  • Herunterregulieren der Körpertemperatur
  • Absenken des Blutdrucks
  • Reduktion des Energieverbrauchs
  • Aktivierung des Immunsystems
  • Aktivierung des Hippocampus als Struktur für Lernen und Gedächtnis
  • Verstärkte Ausschüttung des Wachstumshormons (Human Growth Hormone, HGH)
  • Einfluss auf die Ausschüttung unterschiedlicher Sexualhormone

Alles in allem vermittelt Melatonin dem Körper Ruhe und wirkt somit als wichtiger Gegenspieler zum Stresshormon Cortisol, das dem Körper Wachheit und Aktivität vermittelt. Tatsächlich stehen sich die beiden Hormone in einem feinen Wechselspiel gegenüber.

Wechselspiel zwischen Cortisol und Melatonin

Cortisol (auch Kortisol) wird in der Nebenniere gebildet und unterliegt wie auch Melatonin dabei einem spezifischen Rhythmus. Die Ausschüttung erfolgt bei gesunden Menschen in mehreren Schüben über den Tag verteilt und beginnt in den frühen Morgenstunden, sodass die erste Spitze gegen 8 Uhr erreicht ist. Am Abend sinkt der Cortisol-Spiegel deutlich ab und übergibt den Körper an den steigenden Melatonin-Spiegel, der wiederum in den frühen Morgenstunden abnimmt, sodass am Tage wieder Cortisol überwiegt.

Cortisol wirkt auf zahlreiche Strukturen im Körper, die in erster Linie für Aktivität verantwortlich sind. Zu den direkt oder indirekt ausgelösten Wirkungen von Cortisol gehören unter anderem:

  • Bereitstellung von Energie für den Körper
  • Steigerung des Energieverbrauchs
  • Unterdrückung des Immunsystems
  • Steigerung des Blutdrucks
  • Steigerung der Aufmerksamkeit
  • Steigerung der Leistungsfähigkeit

Bei einer plötzlichen Gefahr wird die Ausschüttung von Cortisol für eine kurze Zeit deutlich verstärkt, weswegen es auch als „Stresshormon“ bezeichnet wird. Dadurch wird der Körper in Alarmbereitschaft gesetzt. Es kommt zu einer schnellen Mobilisierung von Energie, durch den sich der Organismus rasch aus einer Notlage befreien und in Sicherheit bringen kann. Auch das Schmerzempfinden kann in einer solchen Stressreaktion durch Cortisol kurzzeitig deutlich reduziert werden und in den Hintergrund der Wahrnehmung geraten. Eine solche kurze Stressreaktion hat sich im Laufe der Evolution als überlebenswichtig bewährt, denn sie ermöglicht das sogenannte Kampf/Flucht-Verhalten und sichert letztlich das Überleben einer ganzen Art. In der heutigen Zeit gerät dieser Schutzmechanismus allerdings immer mehr in den Hintergrund, denn plötzliche und kurze Gefahren sind in unserem Alltag eher selten. An ihre Stelle treten chronische Belastung und Dauerstress, die dafür sorgen, dass der Cortisol-Spiegel nicht nur kurzzeitig, sondern dauerhaft zu hoch ist und das feine Wechselspiel zwischen Cortisol und Melatonin stört. Eine Folge davon sind Schlafstörungen.

Warum ist gesunder Schlaf wichtig?

Jeder Mensch braucht Schlaf. Tatsächlich ist er von essentieller Bedeutung für die Gesundheit und Lebensqualität, weswegen es sich lohnt, etwa ein Drittel des Lebens zu verschlafen. Im Schlaf erfolgen wichtige Regenerationsprozesse für den gesamten Körper. So werden unter anderem die Abwehrkräfte und das Herz-Kreislauf-System gestärkt, die Zellerneuerung angekurbelt und schädliche Stoffwechselprodukte abtransportiert. Im Gehirn werden Erinnerungen gefestigt, Eindrücke synchronisiert und ein gesundes biochemisches Gleichgewicht wird stabilisiert.

Damit all diese wichtigen Prozesse auch ablaufen können, ist nicht nur eine ausreichende Menge an Schlaf wichtig, sondern auch eine gute Schlafqualität. Im Schlaf werden zyklusartig mehrere Schlafphasen durchlaufen, die sich durch eine unterschiedliche Schlaftiefe und eine unterschiedliche Funktion für den Organismus auszeichnen. Wenn wir aufwachen, wird dieser Zyklus unterbrochen und beginnt nach dem erneuten Einschlafen wieder von vorn. So kann es dazu kommen, dass wichtige Tiefschlafphasen nicht ausreichend erreicht werden. Erst wenn also Quantität und Qualität des Schlafes im optimalen Bereich liegen, kann er als gesund bezeichnet werden.

Statistische Erhebungen konnten zeigen, dass in Deutschland etwa jeder fünfte Erwachsene zwischen 30 und 39 Jahren an Schlafstörungen leidet. Dabei nimmt die Häufigkeit mit steigendem Alter stetig zu und liegt im Rentenalter bei fast 40 Prozent [1]. Die Folgen von Schlafstörungen sind vielfältig, umfassen aber insbesondere folgende Punkte:

  • Konzentrationsstörung
  • Gereiztheit
  • Müdigkeit
  • Stimmungsschwankungen
  • verlangsamte Reaktionszeit
  • Leistungsabfall
  • Immunschwäche

Chronischer Schlafmangel bzw. eine anhaltend schlechte Schlafqualität kann zusätzlich ernst zu nehmende Folgeerkrankungen begünstigen. So ist unter anderem das Risiko für Übergewicht, Bluthochdruck, Depressionen oder Diabetes bei Menschen mit Schlafstörungen deutlich erhöht. Die American Academy of Sleep Medicine und die Sleep Research Society empfehlt seit einigen Jahren eine regelmäßige Schlafdauer von mindestens 7 Stunden, um das Risiko für diese Erkrankungen zu reduzieren. [2]

Was kann das natürliche Gleichgewicht von Melatonin und Cortisol stören?

Bei einem physiologischen Gleichgewicht zwischen Melatonin und Cortisol ist ein gesunder Schlaf mit all seinen positiven Effekten auf den Organismus in der Regel kein Problem. Unterschiedliche Faktoren können dieses Gleichgewicht jedoch stören, sodass es in der Folge zu Schlafstörungen kommt. Grundsätzlich können hierbei zwei Varianten unterschieden werden:

1. Der Körper bildet zu wenig Melatonin

Unterschiedliche Umstände können dazu führen, dass dem Körper weniger Melatonin zur Verfügung steht, als er für einen gesunden Schlaf benötigen würde. Da das Hormon während der Dunkelheit gebildet wird, ist eine sehr einfache, aber nicht zu unterschätzende Ursache zu viel Licht. So kann es nicht nur im Sommer dazu kommen, dass ein Mensch nicht ausreichend Dunkelheit ausgesetzt ist, ständiges Licht ist auch ein häufiges Problem bei Menschen mit Schichtarbeit oder Bewohnern von hell erleuchtetet Metropolen. Denn nicht nur Tageslicht, auch künstliche Beleuchtung hemmt die Bildung von Melatonin. So kann eine sogenannte Lichtverschmutzung nachteilige Auswirkungen auf die Gesundheit haben, die sich letztlich auf eine mangelnde Bildung von Melatonin zurückführen lassen. [3]

Insbesondere Menschen, die Schichtarbeit leisten, tragen insgesamt ein größeres Risiko für unterschiedliche Erkrankungen, die sich auf sogenannte zirkadiane Störungen, also Beeinträchtigungen des Tag-Nacht-Rhythmus zurückführen lassen. Melatonin scheint hierbei eine Schlüsselrolle zu spielen, da es bei nächtlicher künstlicher Beleuchtung in zu geringen Mengen gebildet wird und dadurch seine vielfältigen Funktionen im Körper nicht erfüllen kann. Die Folge sind Schlafstörungen und eine Beeinträchtigung des Immunsystems sowie ein deutlich erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes oder unterschiedliche Krebserkrankungen (z. B. Prostata- und Brustkrebs). Hierbei spielen zum Beispiel Dysregulationen der Sexualhormone eine Rolle, die durch eine Unterversorgung mit Melatonin entstehen. [4]

Zuletzt ist es eine normale Entwicklung im Alter, dass die Bildung und Freisetzungen von Melatonin mit den Jahren langsam sinkt. Dies ist auf die Veränderung unterschiedlicher Hormone zurückzuführen, die in Wechselwirkung miteinander stehen und den Prozess stören. Auch eine Ermüdung der Zirbeldrüse führt im Alter zu einer nur noch eingeschränkten Funktionalität. Tatsächlich zeigen ältere Menschen teilweise in der Nacht nur einen doppelt so hohen Melatonin-Spiegel wie am Tage. Zum Vergleich: Bei jüngeren Erwachsenen ist der Melatonin-Spiegel in Nacht bis zu 12-mal höher als am Tage. In der Folge Schlafen ältere Menschen schlechter und weniger, wodurch sich wiederum Auswirkungen auf den Körper ergeben, die zwar zum physiologischen Alter gehören, aber faktisch mit einer stark reduzierten Schlafqualität in Zusammenhang stehen, wobei Ursache und Wirkung einen Kreis schließen und nicht klar auszumachen sind.

2. Der Körper bildet zu viel Cortisol

Auch bei einer ausreichenden Bildung und Freisetzung von Melatonin kann es zu einer relativen Unterversorgung kommen, wenn der Gegenspieler Cortisol in zu großer Menge vorhanden ist und so das physiologische Gleichgewicht verschiebt. Insbesondere chronischer Stress und emotionale oder körperliche Überlastung führen zu einem Anstieg des Cortisolspiegels. In der heutigen Leistungsgesellschaft ist Stress die Hauptursache für einen übermäßigen Cortisolanstieg. In einer aktuellen Studie der Techniker Krankenkasse mit dem Titel „Entspann Dich, Deutschland!“ stellen Wissenschaftler fest, dass mehr als ein Viertel der Deutschen häufig gestresst ist. Im Vergleich zu vorherigen Untersuchungen zeigte sich somit ein deutlicher Anstieg. Die wichtigsten Stressfaktoren sind demnach die Arbeit und zu hohe Ansprüche an sich selbst. Dabei steht dieser Stress in direktem Bezug zu einer Vielzahl gesundheitlicher Probleme, die mit Schlaf in Zusammenhang stehen. So klagen über 50 Prozent der Menschen mit einem hohen Stresslevel über Schlafstörungen und 80 Prozent über anhaltende Erschöpfung. [5]

Neben Stress kann auch durch eine Unterzuckerung oder im Zuge einer Schwangerschaft der Cortisol-Spiegel erhöht sein, was erklären kann, warum Diabetiker und Schwangere häufiger schlecht schlafen (z. B. langsames Einschlafen, häufiges Aufwachen). Auch unterschiedliche Erkrankungen wie Tumore der Nebenniere, Depressionen oder Adipositas können zu einer verstärkten Cortisol-Ausschüttung führen und sich dadurch negativ auf das Gleichgewicht mit Melatonin auswirken.

Kann Melatonin zusätzlich auch eingenommen werden?

Der absolute Großteil des im Körper benötigten Melatonins wird selbst in der Zirbeldrüse hergestellt. Zusätzlich gibt es aber auch Mechanismen, die Melatonin über den Darm in den Körper gelangen lassen. Dies ist besonders dann interessant, wenn die physiologische Menge aus unterschiedlichen Gründen beeinträchtigt ist. Gesunde Menschen können aufgenommenes Melatonin vollständig resorbieren, bei älteren Menschen geht die Resorptionsrate allerdings auf bis zu 50 Prozent zurück. Pharmakokinetische Untersuchungen zeigten, dass bei gleichzeitiger Nahrungsaufnahme die Resorption von Melatonin leicht verzögert stattfindet. Aus diesem Grunde sei es ratsam, eine gezielte Einnahme von Melatonin möglichst nicht mit einer Mahlzeit zu kombinieren. Das aufgenommene Melatonin gelangt über die Zellen der Darmschleimhaut in die Blutbahn und wird dort gebunden an Plasmaproteine durch den Körper transportiert. Zwischen eigenem und aufgenommenem Melatonin kann er nicht mehr unterscheiden. Die Halbwertzeit von Melatonin liegt bei 3,5 bis 4 Stunden. Anschließend wird es über die Nieren ausgeschieden.

Melatonin in natürlichen Nahrungsmitteln

Melatonin kommt in sehr geringen Mengen in einigen natürlichen Nahrungsmitteln vor. So finden sich zum Beispiel in Cranberrys, Pfifferlingen oder Pistazien zwar nachweisliche Mengen an Melatonin, sie sind jedoch so gering, dass selbst bei vollständiger Aufnahme mit keinem Effekt auf den Körper gerechnet werden kann. Auch Milch enthält Melatonin und zwar etwa dieselbe Menge, die zum Zeitpunkt des Melkens auch im Blut der Kuh zirkuliert. Demnach enthält sogenannte Nachtmilch mehr Melatonin als Tagmilch, weswegen Nachtmilch auch in kristallisierter Form als natürliches Schlafmittel vermarktet wird. Die dieser Nachtmilchkristalle wird jedoch stark angezweifelt, da die tatsächlich enthaltene Menge an Melatonin deutlich unter 0,5 mg liegt. Experten gehen davon aus, dass mithilfe normaler Lebensmittel eine die maximale Aufnahme unter 1 mg Melatonin bleibt, diese Menge aber als gesundheitlich unbedenklich und weitestgehend wirkungslos eingestuft werden kann. [6]

Melatonin als Medikament

Melatonin ist in der EU als Arzneimittel anerkannt und findet sich in Dosierungen von 1, 2 und 5 mg in Tabletten zur verschreibungspflichtigen Behandlung von älteren Menschen (Ü55) mit Schlafstörungen (Insomnie). Auch bei Schlafstörungen von Kindern innerhalb des autistischen Spektrums kommen Melatonin-Präparate zum Einsatz. Für den freien Verkauf ist es nicht zugelassen. Das Medikament wird etwa 2 Stunden vor dem Schlafen eingenommen und kommt dann zur Anwendung, wenn nicht-pharmakologische Maßnahmen zur Verbesserung der Schlafhygiene ohne Erfolg blieben. Die maximale Dosis liegt bei 10 mg. Als Hormon entfaltet Melatonin im Körper eine große Bandbreite an Wirkungen, die nicht immer vollständig kontrolliert werden können. Aus diesem Grunde kommt es zu unterschiedlichen Nebenwirkungen:

  • Stimmungsschwankungen
  • gesteigerte Reizbarkeit
  • plötzliche Schlafattacken
  • Kopfschmerzen
  • Entzündung der Nasennebenhöhlen (Sinusitis)
  • Erschöpfung
  • Einschränkung der Verkehrstüchtigkeit

Auch Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, insbesondere solche, die auf den Hormonhaushalt wirken, sind ebenfalls nicht unerheblich. Aus diesem Grunde wird Melatonin eher sparsam verschrieben und hauptsächlich von älteren Menschen eingenommen wird, bei denen Beeinträchtigungen der Eigensynthese vorliegen. Über eine additive Zufuhr durch ein entsprechendes Medikament kann diese Defizit von Außen aufgefangen werden. [7]

In der medizinischen Forschung wird der Einsatz von Melatonin für weitere Zwecke seit Jahren untersucht. Eine interessante Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2022 fasst 35 klinische Studien mit Melatonin bei unterschiedlichen Patienten zusammen. Dabei zeigt sich ein positiver Effekt von Melatonin bei:

  • Schlafstörungen
  • postoperativem Schmerz
  • psychiatrischen Störungen (z. B. ADHS, Autismus)
  • unterschiedliche Stoffwechselstörungen (z. B. Diabetes, Bluthochdruck)
  • Krebs

Die genauen Wirkmechanismen sind zu einem Großteil noch unverstanden und müssen in den kommenden Jahren detaillierter untersucht werden. Durch unterschiedliche Dosierungen in den einzelnen Studien ist ein exakter Vergleich außerdem nicht immer möglich, jedoch werden deutliche Hinweise geliefert, dass Melatonin über seine unterschiedlichen Wirkmechanismen eine Vielzahl von Körperfunktionen und Abläufen beeinflusst und ein großes pharmazeutisches Potential besitzt. [8]

Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln

Seit einigen Jahren ist Melatonin auch als Nahrungsergänzungsmittel erhältlich und verbreitet sich, sicherlich auch aufgrund der hohen Belastung durch Schlafstörungen, rasant. Es wird in erster Linie zur Unterstützung des Einschlafens angepriesen und richtet sich an Menschen, die abends lange brauchen, um in den Schlaf zu finden. Gängige Formen sind Sprays oder Tropfen, bei denen das Hormon direkt über die Mund- oder Nasenschleimhaut ins Blut aufgenommen werden soll. Auch melatoninhaltige Kapseln sind als Supplement frei zu kaufen und gelten somit als Lebensmittel. Das mutet zunächst ungewöhnlich an, da es sich bei Melatonin nicht um einen eigentlichen Mikronährstoff, sondern um ein Hormon handelt, dessen pharmazeutische Verwendung streng reglementiert ist und nur mit ärztlicher Verordnung stattfinden darf.

Eine klare Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln und Arzneimitteln ist in der EU nicht einheitlich geregelt. In Deutschland ist das Inverkehrbringen von Arzneimitteln nur nach vorherigem Zulassungsverfahren gemäß § 21 des Arzneimittelgesetzes (AMG) zulässig. Deshalb ist es wichtig, dass ein Nahrungsergänzungsmittel bzw. seine Inhaltsstoffe aufgrund ihrer pharmakologischen Wirkung nicht als Arzneimittel eingestuft werden. Das letzte Wort bei dieser Entscheidung liegt bei der zuständigen Landesbehörde, in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Bereits im Jahr 1995 stellte das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) fest, dass Melatonin ein verschreibungspflichtiges Medikament und kein Nahrungsergänzungsmittel sei und kommt zu folgendem Schluss: „Jeder Verbraucher, der Melatonin ohne entsprechende Verschreibung eines Arztes einnimmt, tut dies deshalb auf eigenes Risiko.“ [9] Da das BfR lediglich eine beratende Funktion hat, informierte es die Länderbehörden für Lebensmittelüberwachung über seine Ansicht, dass die freie Vermarktung eines Arzneimittels als Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland illegal ist und Melatonin in diesen Bereich fallen würde. Zwei Jahre später veröffentlicht das BfR gemeinsam mit dem Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) eine Presseinformation, in der sie feststellen, das Melatonin als Fertigarzneimittel einer Zulassung durch das BfArM bedarf, die einen Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Undenklichkeit voraussetzt. Noch im Jahr 2011 bekräftigte das BfArM seine Einschätzung, dass Melatonin in Deutschland ohne jegliche Dosiseinschränkung der Verschreibungspflicht unterliegt und zwar unabhängig der innerhalb der EU zugelassenen Health Claims für Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel.

Bei Health Claims handelt es sich um Gesundheitsversprechen, die für die Werbung von Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden dürfen. Innerhalb der EU werden sie durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) überprüft und festgelegt. Dabei prüft die Behörde das Vorhandensein oder Fehlen fundierter wissenschaftlicher Belege für eine bestimmte gesundheitsbezogene Aussage. Die Funktion der Regelung zu den Health Claims liegt im Gesundheitsschutz der allgemeinen Bevölkerung innerhalb der EU. Sie soll sicherstellen, dass Werbung mit gesundheitsbezogenen Angaben nur dann zulässig ist, wenn die beantragten Formulierungen auch wissenschaftlich anerkannt wurden. Aktuell sind innerhalb der EU für Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln zwei Health Claims zugelassen:

  1. „Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven JetLeg-Empfindung bei.“
  2. „Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen.“

Gleichzeitig betont die EFSA eine notwendige Dosierung von mindestens 0,5 mg für den ersten Punkt und 1 mg für den zweiten, um die entsprechende Gesundheitsversprechen auch halten zu können. Darüber sollten die Verbraucher transparent informiert werden. [10]

Aufgrund der uneinheitlichen Einschätzungen und Regelungen in der EU und Deutschland ist Melatonin seit Jahren ein Fall fürs Gericht, doch verschiedene Gerichte sind bisher zu unterschiedlichen Auffassungen gelangt. Auf der Suche nach einer Antwort, ob es sich bei Melatonin nun um ein Arzneimittel oder ein Nahrungsergänzungsmittel handelt, wurden bisher einige Einzelurteile getroffen, doch eine klare Aussage steht immer noch aus, weswegen in Deutschland Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln nach wie vor als rechtliche Grauzone zu betrachten ist.

Das Problem

Die Aufsicht über Nahrungsergänzungsmittel liegt in Deutschland bei den Lebensmittel-Überwachungsbehörden der einzelnen Bundesländer, wobei die Behörde zuständig ist, in dem der Hersteller eines entsprechenden Nahrungsergänzungsmittels seinen Hauptsitz hat. Wenn diese Behörde der Meinung ist, dass es sich bei einem bestimmten Produkt eigentlich um ein Arzneimittel handelt, kommt der jeweilige Fall vor Gericht. Dort gilt es, die Frage zu klären, ob es einen hinreichenden wissenschaftlichen Nachweis von pharmakologischen Eigenschaften für dieses Produkt gibt. Dabei werden nur das einzelne Produkt und seine Zusammensetzung unter die Lupe genommen, sodass ein allgemeingültiges Urteil nicht möglich ist. Ausschlaggebend ist am Ende die Menge des enthaltenen Melatonins. So hat das Verwaltungsgericht in München im Jahr 2018 festgestellt, dass Produkte mit Einzeldosen von unter 1 mg als Lebensmittel und nicht als Arzneimittel einzustufen sind, weil diese Mengen auch über natürliche Lebensmittel aufgenommen werden könnten [6]. Da die Berufung zum aktuellen Zeitpunkt noch immer nicht abgeschlossen ist, gilt aber auch dies nur als Hinweis und nicht als endgültige Aussage. Solange kein abschließendes Urteil für ein Produkt gefällt werden konnte, darf es uneingeschränkt weiter vermarktet werden. [11]

Um den komplizierten Regelungen und langwierigen juristischen Auseinandersetzungen zu entkommen, verwenden viele Hersteller nur sehr geringe Mengen an Melatonin in ihren Produkten oder kombinieren sie mit anderen Substanzen, die beim Einschlafen helfen sollen (z. B. Baldrian). Dadurch ist eine Werbung zur Unterstützung des Einschlafens zugelassen, auch wenn sie am Ende nicht auf das enthaltene Melatonin zurückzuführen ist. Die Verbraucherzentrale schätzt die Verwendung von Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln als kritisch ein und sieht das Problem in einer fehlenden Rechtsgrundlage. Insgesamt seien die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Nahrungsergänzungsmittel nach Auffassung der Verbraucherzentralen als unzureichend einzustufen. [12]

Höchstmengen und gesundheitliche Risiken

Aktuell ist eine Dosierung von mehr als 1 mg Melatonin über Nahrungsergänzungsmittel nicht vorgesehen. Bis zu dieser Menge ist davon auszugehen, dass keine unerwünschten Nebenwirkungen oder gesundheitliche Risiken auftreten. Oberhalb dieser Grenze wird ein Bereich beschritten, in dem Melatonin pharmazeutisch genutzt wird und es zu oben genannten Nebenwirkungen (z. B. Stimmungsschwankungen oder Beeinträchtigung der Verkehrstüchtigkeit) kommen kann. Ebenso sind Wechselwirkungen mit Medikamenten zur Blutverdünnung oder eine Beeinflussung der Blutgerinnung möglich. Bei einer vorliegenden hormonsensitiven Erkrankung (z. B. Brust- oder Prostatakrebs) sollte Melatonin unter keinen Umständen ohne ärztliche Rücksprache eingenommen werden. Auch Schwangere und Stillende sollten aufgrund einer unklaren Gefahrenlage für das Kind von einer zusätzlichen Einnahme von Melatonin absehen. Bei der Verwendung als Arzneimittel ist eine höchste Einzeldosis von 10 mg angegeben, die aber nur in Ausnahmefällen von einem Arzt verschrieben werden darf und nur für eine kurzzeitige Anwendung gedacht ist. Grundsätzlich sollte Melatonin aufgrund der komplexen Wirkung im Rahmen seiner Eigenschaft als Hormon nur kurzfristig eingenommen werden, um ein akutes Schlafproblem zu lindern. Langfristig sind Maßnahmen zur Verbesserung der Schlafhygiene oder Stressreduzierung zu bevorzugen.

Fazit mit Vor- und Nachteilen

Melatonin ist ein körpereigenes Hormon, das bei Dunkelheit in der Zirbeldrüse produziert wird und den Körper in einen Ruhezustand versetzt. Dafür beeinflusst es die unterschiedlichsten Körperfunktionen und steht in einem empfindlichen Gleichgewicht mit anderen Hormonen. Insbesondere Cortisol, das als Stresshormon Aktivität und Wachheit vermittelt, ist als Gegenspieler von Melatonin eng mit ihm verknüpft. Aber auch Sexualhormone und Wachstumshormone werden durch Melatonin beeinflusst. Eingriffe in den Hormonhaushalt sind grundsätzlich mit Vorsicht zu betrachten und in ihrer breitgestreuten Wirkung nicht zu unterschätzen. Aus diesem Grunde ist Melatonin in pharmazeutisch relevanten Dosierungen verschreibungspflichtig und darf nur in Absprache mit einem Arzt oder einer Ärztin eingenommen werden. Tatsächlich wird es von den wegweisenden Instituten in Deutschland unabhängig von der Dosis als Arzneimittel eingestuft, weswegen sich melatoninhaltige Nahrungsergänzungsmittel in einer rechtlichen Grauzone befinden, die dringend geklärt werden muss. Damit befassen sich bereits seit Jahren unterschiedliche Gerichte, doch ist ein allgemeingültiges Ergebnis zum aktuellen Zeitpunkt auch aufgrund eines komplizierten rechtlichen Rahmens nicht absehbar. Fakt ist allerdings, dass bei den Mengen an Melatonin wie, sie in Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden, mit keinerlei gesundheitlichen Risiken gerechnet werden muss.

Quellen

[1] Statista (2011), Bevölkerungsanteil mit Schlafstörungen in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2011

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/245503/umfrage/bevoelkerungsanteil-mit-schlafstoerungen-in-deutschland-nach-alter-und-geschlecht

[2] Elmenhorst D & EV (2018) Risiko Schlafmangel, Spektrum 7.5.2018

https://www.spektrum.de/news/was-bei-schlafmangel-im-gehirn-passiert/1560834

[3] Kantermann, T. (2018): Humanmedizinisch relevante Wirkungen von Lichtver#schmutzung. SynOpus, Bochum

https://gfzpublic.gfz-potsdam.de/rest/items/item_5006406_3/component/file_5006417/content

[4] Rabstein et al. (2020) Schichtarbeit und Krebserkrankungen – Über zirkadiane Störungen, epidemiologische Evidenz und Berufskrankheiten-Kriterien, Zbl Arbeitsmed 2020, 70:249–255.

https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s40664-020-00398-3.pdf

[5] TK-Stressstudie 2021: Entspann dich, Deutschland!

https://www.tk.de/resource/blob/2116464/9ff316aaf08870ed54aa8a664502ac67/2021-stressstudie-data.pdf

[6] Verwaltungsgericht München (2018)  – Zur Arzneimitteleigenschaft melatoninhaltiger Lebensmittel

https://gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2018-N-28804?hl=true&AspxAutoDetectCookieSupport=1

[7] Gelbe Liste – Pharmaindex: Melatonin

https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Melatonin_50325#:~:text=Melatonin

[8] Lim et al. (2022) Effects of exogenous melatonin supplementation on health outcomes: An umbrella review of meta-analyses based on randomized controlled trials. Pharmacol Res. 2022 Feb;176:106052.

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34999224/

[9] BfR (1995) “Wunderdroge” Melatonin ist kein Nahrungsergänzungsmittel

https://www.bfr.bund.de/de/presseinformation/1995/22/_wunderdroge__melatonin_ist_kein_nahrungsergaenzungsmittel-777.html

[10] Borsch J (2022) Melatonin als NEM: Wo sind die gesetzlichen Grenzen? DAZ-online, 13.4.2022

https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/04/13/melatonin-als-nem-wo-sind-die-gesetzlichen-grenzen

[11] Schersch (2020) Melatonin ist meist ein Fall fürs Gericht, Pharmazeutische Zeitung

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/melatonin-ist-meist-ein-fall-fuers-gericht-121143/

[12] Verbraucherzentrale (2022) Einschlafspray als Nahrungsergänzung?

https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/faq/projekt-klartext-nem/einschlafspray-als-nahrungsergaenzung-57891

Annika Mix ist promovierte Biologin und arbeitete viele Jahre in der medizinischen Grundlagenforschung. Mit einer journalistischen Weiterbildung erfüllte sie sich den Wunsch, als freiberufliche Texterin und Wissenschaftsjournalistin Themen aus dem Bereich von Gesundheit und Forschung alltagsnah zu vermitteln.